(Dieser Artikel ist Folge 42 der Serie „Donnerstag = Multitrack-Video-Tag“)
Schwierige Zeiten, besonders für (professionelle) Chorsänger. Seit dem 17. März 2020 greift der Corona-Shutdown auch beim Rundfunkchor Berlin. Proben, geschweige denn Konzerte sind derzeit nicht durchführbar; ein Ende dieser Situation ist nicht in Sicht.
Viele Splitscreen-Videos von Chören
Viele Chöre sind stattdessen auf eine hier im Blog bestens bekannte Kunstform umgestiegen: Splitscreen-Videos. Dabei entstehen teilweise klanglich sehr erstaunliche Ergebnisse. Toningenieure verbringen oft wahre Wunder, um aus einzelnen Aufnahmen von Sängern über Handy- oder Laptop-Mikrofone einen homogenen, ja manchmal geradezu CD-reifen Chorklang zu zaubern. Ein paar Beispiele seien hier exemplarisch aufgeführt:
- RIAS Kammerchor: „Der Mond ist aufgegangen“ (J. A. P. Schulz/M. Reger), veröffentl. am 31.03.2010
- Sieben Rundfunkchöre – ein Choral: Mitglieder aller 7 Rundfunkchöre Deutschlands singen gemeinsam den Choral „Dein Will gescheh, Herr Gott, zugleich“ aus Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion, veröffentl. am 10.04.2020
- Mädchenchor Hannover: Go the Distance (A. Menken/M. Arn), veröffentl. am 12.04.2020
- MDR-Rundfunkchor: „Ubi caritas“ (M. Duruflé), veröffentl. am 24.04.2020
- WDR Rundfunkchor: „Nun ruhen alle Wälder“ (J. S. Bach), veröffentl. am 25.04.2020
Ein etwas anderer Weg
Im Rundfunkchor Berlin haben wir Mitte bis Ende März, neben unserer Solidaritätsaktion, auch darüber diskutiert, ob wir ein solches Video erstellen. Allen diesen Videos ist jedoch gemein, dass ein kurzes Stück aus dem Konzertrepertoire des jeweiligen Chores dargeboten wird, die Sängerinnen und Sänger singen jeweils von zu Hause aus, in aufwändiger Ton- und Bildbearbeitung wird dann daraus ein Splitscreen-Video kreiert. Sehr viele Chöre haben in den letzte Wochen (mindestens) ein solches Video herausgebracht, die Kunstform wird irgendwie inflationär, die Bilder gleichen sich auch irgendwie …
Uns war schnell klar, dass wir uns in dieser Form da nicht einreihen wollten, zumal ohne direkte Eingliederung in eine Sendeanstalt auch erhebliche Produktionskosten entstanden wären, die wegen des Ausfalls von Eintrittsgeldern zunächst einmal nicht so ohne weiteres finanzierbar gewesen wären.
Am 1. April sah ich dann das Video des Bassposaunisten Jörg Lehmann vom Rundfunksinfonie-Orchester Berlin, in dem er im Großen Sendesaal des Haus des Rundfunks viermal zu sehen ist und quasi mit sich selbst im Posaunenquartett „Über den Sternen“ von Franz Abt spielt. Die dabei verwendete Videotechnik der Maskierung hatte es mir angetan und erweckte in mir den Wunsch, ebenfalls ein Video mit dieser Technik zu produzieren.
„O Mensch, bewein dein Sünde groß“ BWV 622 …
Musikalisch war meine erste Idee irgendetwas inspiriert durch den Contrapunctus I aus „Die Kunst der Fuge“ für räumliche Stimmen gesetzt von Dieter Schnebel. Zusätzlich zur räumlichen Verteilung der Stimmen bot mir die Videotechnik die Möglichkeit, die Stimmen nur dann „erscheinen“ zu lassen, wenn sie auch tatsächlich singen. Zunächst wollte ich das Video – wie Jörg Lehman – alleine realisieren. Schnell wurde mir allerdings klar, dass mir größere Möglichkeiten offen stünden, wenn ich meine Kolleginnen und Kollegen mit einbeziehen würde.
Sodann musste nur noch eine konkrete musikalische Vorlage gefunden werden. Da mir klar war, dass ich das Stück im Laufe eines solchen Produktionsprozesses mehrere hundert Male hören würde, kam nur ein Werk in Frage, was über jeden musikalischen Zweifel erhaben war. Durch die Schnebel-Idee lag ein Werk von Bach nahe. Da ich mich von den übrigen Chor-Videos abheben wollte, sollte es allerdings ein Werk sein, von dem bisher keine Version für Chor existierte. Nach einiger Recherche entschied ich mich dann schließlich für das Choralvorspiel „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ BWV 622 aus Bachs „Orgelbüchlein“.
… in neuem Gewande
Am 8. April habe ich dann eine E-Mail an sämtliche festangestellten Mitglieder des Rundfunkchors geschickt, um Bereitschaft und Möglichkeit zur Teilnahme an dem Projekt abzufragen. Von etwa der Hälfte der Mitglieder bekam ich ein positive Rückmeldung, ausreichend, um ein Video in Chorstärke zu erstellen. Die erste Hälfte der Bearbeitung wollte ich solistisch gestalten, hierfür hatte ich neun Kolleg*innen ausgewählt.
Doch wie sollte ich das Arrangement des Orgelwerks für Chor gestalten? Der Orgelsatz ist durchgehend vierstimmig und insofern eine ideale Ausgangsbasis für einen vierstimmigen Chorsatz. In der ersten Hälfte liegt die Hauptstimme relativ tief, weshalb ich sie der Altstimme übertragen habe. Als Begleitsatz habe ich ein dreistimmiges Männerensemble (Tenor, Bariton, Bass) eingesetzt. Im späteren Verlauf übernimmt dann der Sopran die Hauptstimme, der Begleitsatz wird auf Alt, Tenor und Bass verteilt.
Die Hauptstimme ist im Original reich an Koloraturen und zudem noch mit etlichen Verzierungszeichen versehen. Da ein Live-Probenbetrieb ausgeschlossen war, blieb mir nichts anderes übrig, als die Ausführung der Verzierungen genau festzulegen und auszunotieren. Das ist der Grund dafür, dass die Triller und anderen Verzierungen teilweise etwas mechanisch klingen.
Die nächste zu klärende Frage war die nach der Textierung. Ich bin ein großer Fan der Transkriptionen für Chor von Clytus Gottwald. Dieser verwendet allerdings auch für die Begleitstimmen den Text bzw. Bruchstücke desselben der Melodie. Ich wollte allerdings nicht auf den Text des Chorals zurückgreifen, schon gar nicht für die Begleitstimmen. Deshalb entschied ich mich für einfache Tonsilben, also gewissermaßen „Text ohne Text“, so wie es beispielsweise auch von den Swingle Singers in ihren Bach-Transkriptionen gehandhabt wurde.
Von Anfang an hatte ich keine am Originalklang-Ideal orientierte Version im Sinn. Ich wollte vielmehr eine Version, die sich an den klanglichen Stärken des Rundfunkchores Berlin orientiert. Inspirationsquelle war daher eher Cameron Carpenter als Ton Koopman. Auch von der Bearbeitung des Choralvorspiels für Streichorchester durch Max Reger ließ ich mich gerne inspirieren.
Aufwändiger Produktionsprozess
Am 9. April habe ich die ersten Noten und Playbacks an die Solisten verschickt, einen Tag später das Material an den Summchor für den zweiten Teil der ersten Hälfte. Ab Ostersonntag ging dann das Material an alle Tuttisänger hinaus. Beteiligt waren außer mir insgesamt 31 Kolleg*innen und unser Chefdirigent Gijs Leenaars. Gijs und ich waren beide der Überzeugung, dass ein „Fake“-Dirigat, wie es in manch anderem Chorvideo zu sehen war, für uns nicht infrage kam. Daher entschieden wir, dass er wie ein Chorsänger der Baritongruppe, sowohl akustisch, als auch optisch in Erscheinung treten wird.
Am Donnerstag nach Ostern fanden im Helmut-Koch-Saal, dem zu dieser Zeit komplett verwaisten Probensaal des Rundfunkchors, die Videoaufzeichnungen mit den neun Solist*innen statt: Innerhalb drei Stunden wurde im 20-Minuten-Takt jede(r) von ihnen einzeln dabei gefilmt, wie sie/er zum Playback des ersten Teils an dem ihr/ihm zugewiesenen Platz ihre/seine Partie sang – unter strenger Einhaltung der geltenden Abstandsregeln. Am 22. April habe ich schließlich die Playbacks und Instruktionen zu den individuellen Videoaufnahmen der Tuttisänger*innen verschickt. Danach trudelten die verschiedenartigsten bunten Videos ein mit Sänger*innen, die während des Singens Atemschutzmasken auf- und absetzten.
Aus insgesamt 291 Sound- und 59 Videodateien habe ich dann das Video zusammengesetzt. Vom Beginn des Produktionsprozesses bis zur Fertigstellung waren das für mich etwa 150 bis 180 Stunden Arbeit. Am Montag, dem 27. April 2020, um 15:55 Uhr war es dann soweit – auf YouTube wurde folgendes Opus veröffentlicht:
O Mensch, bewein dein Sünde groß | BWV 622 | Rundfunkchor Berlin
» O Mensch, bewein dein Sünde groß | BWV 622 | Rundfunkchor Berlin @YouTube
Bisher waren die Reaktionen fast ausnahmslos positiv. Sogar ich selbst bin mit mir einigermaßen zufrieden. Mein Ziel, etwas zu schaffen, was sich von anderen Chorvideos in diesen Tagen deutlich abhebt, habe ich erreicht. Eine direkte Verbindung zur Situation herzustellen, die uns dazu zwingt, im Moment als Chor nur über Videos an unser Publikum heranzutreten, ist mir gelungen – nicht nur durch die Verwendung von Atemschutzmasken bei den Bocca-chiusa-Stellen. Mir war von Anfang an klar, dass das Projekt nicht vor Ostern fertig werden würde. Einen Choral zu verwenden, dessen liturgischer Bezug eindeutig die Fastenzeit ist, erschien mir inhaltlich aber dennoch sinnvoll, weil für uns (Chor-)Sänger die Zeit der Entbehrung in diesem Jahr in schmerzlicher Weise weit über Ostern hinausgehen wird …
Besetzung
Barbara Berg, Sopran
Christine Lichtenberg, Alt
Judith Simonis, Alt
Holger Marks, Tenor
Joohoon Shin, Tenor
Wolfram Teßmer, Bariton
Georg Streuber, Bariton
Mathis Koch, Bass
Axel Scheidig, Bass
Mitglieder des Rundfunkchores Berlin & Gijs Leenaars
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Karin
Hallo! Besten Dank für die tolle Anleitung! Gibt es auch eine Möglichkeit, bei mp3, also bei audiodateien den ISRC auszulesen? […]