In dem sozialen Netzwerk mit dem weißen „f“ wurde in den letzten Tagen in meiner Timeline ein Meme mit folgendem Text geteilt:

Kein Mensch, der seine Sinne beisammenhat, würde sich von einem Sechzehnjährigen, dem die Eltern zu Weihnachten einen Anatomie-Atlas geschenkt haben, den Blinddarm rausnehmen lassen. Kein Mensch, der für sich und seine Familie ein Haus bauen will, würde einen sechzehnjährigen Architekten anheuern, der bis jetzt nur Sandburgen gebaut hat. Und kein Mensch, der einen Hedge Fund von einem Bausparvertrag unterscheiden kann, würde einem Sechzehnjährigen sein Vermögen anvertrauen. Aber wenn es um das Klima und die Welt, in der wir leben, geht, mutieren lärmende Kinder plötzlich zu geschätzten Propheten eines bevorstehenden Untergangs.
Henryk M. Broder

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus einem Artikel aus Broders Feder, der unter dem Titel „Infantilisierung der Gesellschaft“ Ende August 2019 in dem schweizerischen, der rechtspopulistischen SVP nahestehenden Blatt „Weltwoche“ erschienen ist. Kurz danach verwurstete Broder den Artikel auch noch einmal unter dem Titel „Kinder in die Schlacht!“ auf dem 2004 von ihm mitbegründeten Weblog „Die Achse des Guten“, ein Projekt, das mit liberaler bis neokonservativer Haltung gestartet ist, irgendwann, etwa 10 Jahre später aber „scharf rechts abgebogen“ ist.

Auf die politische Ausrichtung der Medien, in denen dieser Ausspruch Broders zuerst veröffentlicht wurde, möchte ich allerdings bewusst nicht eingehen. Stattdessen möchte ich auf die Art und Weise der Argumentation Broders eingehen: Was sagt er eigentlich? Was bedeutet das konkret? Was sagt er (bewusst) nicht? Und warum?

Und dann möchte ich darüber reflektieren, warum z. B. gerade dieser Ausspruch auch von Personen, die sich als „denkende Menschen“ bezeichnen, bzw. die von anderen als solche bezeichnet werden, goutiert und in sozialen Netzwerken geteilt wird.

Doch zunächst einmal machen wir einen kleinen Abstecher in die Argumentationstheorie:

Autoritätsargument (argumentum ad verecundiam)

Was ist das? Wikipedia führt als Definition aus:

Ein argumentum ad verecundiam (lat. für „Beweis durch Ehrfurcht“) oder Autoritätsargument ist ein Argument, das eine These durch die Berufung auf eine Autorität, wie zum Beispiel einen Experten oder einen Vorgesetzten, beweisen will. Da Autorität als solche keine Garantie für Wahrheit ist, handelt es sich nicht um eine logisch zwingende Schlussfolgerung.

Andere Quellen gehen über „nicht logisch zwingende Schlussfolgerung“ noch hinaus und sprechen von einem Fehlschluss (vgl. z. B. RatioBlog).

Zwei Beispiele:

1. Mein Neffe vs. eine Geologie-Doktorandin

Wenn ich meinen zehnjährigen Neffen frage, ob die Erde um die Sonne kreise oder umgekehrt, so ist seine Antwort: „Die Erde kreist um die Sonne.“ Denn so haben es ihm seine Eltern bzw. Lehrer gesagt und so steht es in den Büchern, die er als an Geografie und verwandten Wissensgebieten interessierter Mensch besitzt.

Im August 2016 erschien in der wissenschaftlichen Zeitschrift „The International Journal Of Science & Technoledge“ ein Artikel der tunesischen Doktorandin Amira Kharroubi an der Sfax University mit dem Titel „The Geocentric Model of the Earth: Physics and Astronomy Arguments“, in dem sie mit wissenschaftlichen Argumenten das geozentrische Weltbild zu beweisen versucht.

Wäre das Autoritätsargument nun tatsächlich in jedem Fall ein valides Argument, sähe es für meinen Neffen schlecht aus: Was wiegt die Aussage eines zehnjährigen Dreikäsehochs gegenüber der einer Geologie-Doktorandin im Sinne des argumentum ad verecundiam?

2. Linus Pauling und das Vitamin C

Linus Pauling, der einzige Forscher, dem zwei ungeteilte Nobelpreise verliehen wurden: für Chemie und Frieden, ist ein besonders tragisches Beispiel für das Autoritätsargument als Fehlschluss. Nachdem er in seinem Leben als Forscher Großartiges geleistet hatte, begann er im Alter von 65 Jahren auf sehr halsstarrige Art und Weise auf pseudowissenschaftlichen Pfaden zu wandeln: Er propagierte Vitamin C (Ascorbinsäure) in hohen Dosen als Mittel gegen Erkältungen, darüber hinaus allerdings auch noch als wirksames Mittel zur Vorbeugung gegen Krebserkrankungen oder zum Verhindern der Ausbreitung des HI-Virus.

Obgleich die Mehrheit der Wissenschaftler Paulings Theorien diesbezüglich widerlegt hat, sähe es im Sinne des Autoritätsarguments schlecht für sie aus: Was wiegt schon die Meinung eines „einfachen“ Wissenschaftlers gegen die eines zweifachen Nobelpreisträgers?

Carl Sagan über das Autoritätsargument

Diese zwei Beispiele lassen anschaulich werden, worin das Problem mit dem Autoritätsargument besteht. Lassen wir an dieser Stelle wieder einmal Carl Sagan, abermals mit einem Zitat aus seinem Buch „The Demon-Haunted World: Science as a Candle in the Dark“, zu Wort kommen:

Arguments from authority carry little weight – authorities have made mistakes in the past. They will do so again in the future. Perhaps a better way to say it is that in science there are no authorities; at most, there are experts.
Carl Sagan (1934 – 1996)

Umkehrung

Was für das Autoritätsargument als solches gilt, gilt auch für dessen Umkehrung. Über die Unsinnigkeit der folgenden Argumentation (wiederum Dank an das RatioBlog) muss ich an dieser Stelle wohl keine weiteren Erläuterungen anbringen:

Du hast ja keine Ausbildung in Homöopathie, deshalb kannst du deren Wirksamkeit gar nicht beurteilen.

Erschreckend oft jedoch scheint das argumentum ad verecundiam zu funktionieren, besonders in der Werbung: Wie oft werden hier Prominente als Autorität dargestellt und wie selten bekommt man wirklich Sachargumente zu hören bzw. zu lesen?

Wie argumentiert Henryk M. Broder genau?

Broders Argumentation funktioniert vordergründig exakt nach dem Schema des umgekehrten Autoritätsarguments: Greta Thunberg ist erst 16 Jahre alt und kann deshalb keine Autorität auf dem Gebiet der Klimaforschung sein.

Seine Fans kratzen an der Oberfläche

Erschreckend oft bekommt Broder für dieses „Argument“ auch noch Beifall. Selbst wenn man nur das Autoritätsargument als solches nimmt, so könnte man doch wissen, dass es, wenn überhaupt eines, ein eher schwaches, wenn nicht sogar ein falsches ist. Folgt man also blind Broders Argumentation auf der Ebene der Autorität, dann ist gewissermaßen die „Kratztiefe“ nahe Null.

Dazu sei noch angemerkt, dass Broder das (wie eigentlich fast schon üblich in seinen „Argumentationen“) Fehlargument mit einem beleidigenden Rundumschlag gegen alle, die seiner Argumentation nicht folgen, verbindet: „Kein Mensch, der seine Sinne beisammenhat, würde […]“ bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Mensch, der solches tun würde, geistige Ausfallerscheinungen an den Tag lege. Aber wie bereits gesagt: Broder ist kein Mensch, der lange überlegt, ob sich vielleicht jemand durch seine Provokationen beleidigt fühlen könnte, was die lange Liste der Prozesse gegen ihn diesbezüglich veranschaulicht.

Der allgegenwärtige Strohmann

Im vorliegenden Fall tut Broder allerdings noch etwas, was fast alle alten weißen Männer, die gegen Greta Thunberg und ihr Anliegen wettern, tun: Er verknüpft seine weiteren Argumente mit einem Strohmann-Argument: So zu tun, als kämmen die Gründe und Schlussfolgerungen für das Wirken Greta Thunbergs von ihr selbst, indem man geflissentlich verschweigt, woher sie ursprünglich stammen, wäre eigentlich auch sehr einfach zu durchschauen. Aber ebenfalls erschreckend viele Menschen sind nicht einmal dazu in der Lage.

Um noch einmal auf meinen Neffen zu sprechen zu kommen: Selbstverständlich hat er nicht selbst den Beweis geführt, dass die Erde um die Sonne kreist. Aber nur deshalb, dass ein zehnjähriger Dreikäsehoch in eigenen Worten den momentanen Stand der Astronomie wiedergibt, wird der Inhalt deshalb keineswegs falsch.

Ebenso verhält es sich mit dem, was Greta Thunberg in Sachen Klimaforschung von sich gibt: Der IPCC (aka „Weltklimarat“) ist ein zwischenstaatlicher Ausschuss der Vereinigten Nationen. Zu jedem neuen Bericht werden neue Teams von Klimawissenschaftlern zusammengestellt.

In ihrer diesjährigen Rede beim Weltwirtschaftsforum in Davos sagte Greta Thunberg (vgl. Volksverpetzer):

Diese Zahlen sind nicht die Meinung von irgendjemandem oder politische Betrachtungsweisen. Das ist die derzeit beste, verfügbare Wissenschaft. Und das, obwohl viele Wissenschaftler der Ansicht sind, diese Zahlen seien noch zu niedrig, es sind diejenigen, die im IPCC akzeptiert wurden […]

Wenn man argumentieren müsste, dann inhaltlich gegen diese IPCC-Berichte.

Dann müsste Henryk M. Broder allerdings verstummen. Denn auch ohne Autoritätsargument ist da nicht viel von ihm zu erwarten. Zumindest hat er bisher nirgendwo schriftlich auch nur ansatzweise eine Expertise auf dem Gebiet der Klimawissenschaft vorzuweisen gehabt.

Noch ein Zitat aus den seichten Untiefen des sozialen Netzwerks mit dem weißen „f“:

Broder polemisiert gern. Hat aber in der Sache recht […]

Diese Behauptung ließe sich allerdings auch nur mit einem weiteren Fehlschluss untermauern – dem Zirkelschluss:

Broder hat recht, weil Broder recht hat.

Gut, dass es Menschen wie Stefan Niggemeier gibt, die unermüdlich nachzuweisen versuchen, wo Broder überall nicht recht hat (z. B. hier & hier).

Das war mal wieder ein längerer Artikel, ganz im Sinne Brandolinis Gesetz‚. Aber auch hier gibt es auf die Frage Phil Williamsons („Is it really worth taking the time […]?“) nur eine Antwort: „I think it is.“